Manuela und Gerd

Eine Liebe die es zu Ostzeiten nie gegeben hätte

 

Neues Land, neues Leben?!

Manuela:

Eine gute Frage. Vielleicht glaubte ich tatsächlich, wenn ich Berlin verlassen und irgendwo weit weg von allen Enttäuschungen ein neues Leben beginnen würde, könnte ich es schnell hinter mir lassen und aus meinem Kopf verbannen. Aber so einfach ist das nicht. Man kann sein Leben nicht einfach so hinter sich lassen und neu anfangen. Ein guter Freund, er ist Pastor meiner Kirchengemeinde, verdeutlichte es mir mit sehr verständlichen Worten:

„Ich freue mich, dass Sie einen Neuanfang gemacht haben. Ein Neuanfang heißt aber nicht, dass man von null anfängt. Wir sind immer die Menschen, die wir in der Geschichte unseres Seins geworden sind. Diese Erfahrungen prägen uns und machen uns zu den Menschen, die wir sind. Diese Erfahrungen sind nicht nur positiv, sondern auch negativ besetzt. Gerade mit den negativen müssen wir lernen umzugehen. Einerseits haben wir keine andere Wahl als sie zu akzeptieren bzw. hinzunehmen: es ist geschehen, was geschehen ist und wir können es nicht mehr ungetan machen. Andrerseits können wir schon unsere Haltung zu dem Ereignis bzw. zu der Person überdenken und sogar ändern. Ich denke, da kommen die Begriffe verzeihen und vergeben ins Spiel.

Anderen Menschen verzeihen hilft mir, mich von einer negativen Situation zu lösen und sie loszulassen. Es ist schlimm genug, dass es geschehen ist, aber ich möchte mich von dem Ereignis nicht noch länger bestimmen lassen. … “

Nachdem ich im November 2014 mich für ein Leben ohne meinen Mann und ohne meine Herkunftsfamilie entschied, war es für mich nicht leicht, erkennen zu müssen, dass mich niemand verstehen will. Weil ich Fragen zu meinem Leben und der heutigen Wahrnehmung meines Erlebten stellte, die für meine Eltern unbequem und für meinen Mann ohne Interesse waren, nahmen sie alle nicht wahr, wie schwer dieser Weg für mich war. Schwierig deshalb, weil ich ihn ganz allein gehen musste und mich niemand auf meinem Weg begleiten wollte. Sie wollten nicht sehen, dass mir diese Aufarbeitung nicht nur wichtig, sondern für meine dauerhafte Genesung dringend notwendig war.

Ohne diese Neuorientierung wäre ich immer noch die „kleine Manuela“, das gehorsame funktionierende „Mäuschen“, wäre ich immer noch ohne jegliches Selbstvertrauen. Ich wäre immer noch die Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse, ihr eigenes Ich zurückstellt, um die geforderten Erwartungen der anderen zu erfüllen. Ich würde immer noch sehr einsam sein, mich wertlos und ungebraucht fühlen. Ich würde teilnahmslos, ausgelaugt und innerlich ausgebrannt vor mich hinleben und niemanden haben, der mich mit meiner ganzen Gefühlswelt wahrnimmt, geschweige versteht. Die Depression würde in einer dauerhaften schweren psychischen chronischen Erkrankung feststecken und ich hätte nicht einmal erfahren, woher und warum.

Ich bekam keine Antworten auf die vielen Fragen von den Menschen in meinem persönlichen Umfeld. Doch da sie mich quälten und ich meinen ständig steigenden Wissensdurst befriedigen wollte, forschte ich lange Zeit allein weiter. Bis ich Ruth Hoffmann und Gerd Keil, meinen jetzigen Lebenspartner, persönlich kennenlernte und von ihnen viele meiner Fragen beantwortet bekam. Sie beide bestimmten mich in meinen weiteren Nachforschungen. Ruth ist mir eine sehr gute Freundin und Gerd mein Ehepartner geworden. Durch sie lernte ich endlich auch wahre Freunde kennen, die mich verstanden, weil auch sie sich mit dem Erlebten in der DDR auseinandersetzten und auf die gleichen Probleme des Schweigens stießen.  Ich wollte wissen, wer Gerd heute ist, der damals so Schreckliches in der DDR erleben musste.

Ich fuhr am 8.11.14 zu ihm und als er mich zur Verabschiedung in die Arme nahm, schoss eine wundersame Wärme durch meinen Körper, die ich nicht erklären konnte. Es war eine Wärme, die mir sehr angenehm war und meine schwierige Zeit der Veränderungen, die auch mit meinem Aufkündigen meiner Ehe zu tun hatte, für einen Moment vergessen ließ.                                                                                                  

Auch dass sich in Berlin alles gegen mich verschworen hatte, selbst meine Freundin sich von mir abwandte und mich wie eine „Geisteskranke“ behandelte, weckten in mir Gedanken der Flucht aus diesem Teufelskreis. Ich wurde zu sehr verletzt von meinen Eltern, meinen Halbbrüdern, meiner Schwägerin, meinem Ehemann und meiner einzigen Freundin. Sie alle hielten mich für „durchgedreht“, nur, weil ich es wagte mein ganzes Leben und all meine Überzeugungen in Frage zu stellen. Meine Freundin meinte, sie habe ernsthaft Sorge um mich und ich erklärte ihr, dass sie keine Sorge haben muss. Denn es geht mir Zusehens besser. Irgendwann ging sie zu weit. Sie sagte mir direkt ins Gesicht: „Na da hat dein Therapeut ja ganze Arbeit geleistet und dir eine Gehirnwäsche verpasst, die sich gewaschen hat.“ Meine letzten Worte zu ihr: „Lieber eine dreijährige Gehirnwäsche eines Psychotherapeuten, als die 40jährige Gehirnwäsche, der wir in der DDR ausgesetzt waren.“ Obwohl er mir keine Gehirnwäsche verpasst hatte, denn schließlich hatte er Psychologie studiert, um Menschen zu helfen und nicht wie in der DDR, mit operativer Psychologie, wie die Stasi sie anwandte, psychisch krank zu machen. Ich kündigte ihr meine Freundschaft., weil ich es nicht nötig habe, mich als geisteskrank und durchgedreht bezeichnen zu lassen, nur, weil sie nicht imstande ist, ihr eigenes Leben zu reflektieren. Schon sehr bald darauf verließ ich Berlin und war mutig genug, mit 54 Jahren einen Neuanfang zu wagen.

In diesem Land Niedersachsen, wo ich Gerd persönlich kennenlernte, gibt es wunderschöne Landschaften, Natur pur mit der Aller, die durch den Ort fließt, riesige alte Bäume und Fachwerkhäuser, wie ich sie aus meiner Kindheit im Zittauer Gebirge kannte, wo ich mich immer sehr wohl gefühlt hatte. Ich war in diese Landschaft sofort verliebt, dass ich begann hier nach einer geeigneten Wohnung zu suchen.  Ich war fest entschlossen alles hinter mir zu lassen und endlich den Neuanfang für mein neues Leben zu beginnen.                                    

Ich war mutig genug, diesen Weg der Veränderung zu gehen, ich konnte selbst eine Entscheidung fällen, die sehr schwer, aber längst fällig war. Ich wollte Festhalten an diesem eingeschlagenen Weg und befürchtete aber, ihn nicht zu Ende gehen zu können, wenn ich in Berlin bleiben würde. Es war schon lange mein Wunsch aufs Land zu ziehen und nun hatte ich diese Möglichkeit. Gerd war erfreut als ich ihn fragte, ob er sich vorstellen könnte, wenn ich für einige Zeit zu ihm ziehen würde. So erholte ich mich sehr rasch von meinen seelischen Belastungen und hatte Gelegenheit, in Gerd einen wirklich liebenswerten und sehr einfühlsamen Mann kennenzulernen. Durch ihn fand ich auch den Weg zum christlichen Glauben. Wir besuchten sehr viele Gottesdienste in der St. Marienkirche zu Wienhausen und ich fühlte mich auf eine wundersame Art hingezogen zu dieser Gemeinde, so dass ich mich am 08.11.15 in dieser Kirche von unserem lieben Pastor taufen ließ. Seitdem fühle ich mich zugehörig und aufgefangen von Gott in einer für mich sehr schwierigen Zeit. Doch ich wollte nicht nur nehmen, sondern in mir wuchs der Wunsch, mich hier, wo ich zu Hause bin, einzubringen.

Heute halte ich selbst, aber auch gemeinsam mit Gerd viele Lesungen und Vorträge, um gegen das Vergessen und die Verklärung dieser DDR-Diktatur einzutreten und auch um aufzuklären, wie wichtig es ist, die demokratischen Rechte nicht nur zu wahren, sondern sie auch aktiv wahrzunehmen, um eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden.

Ich ließ mich für verschiedene Ehrenämter unter dem Dach der Kirche ausbilden und helfe heute vielen Menschen, die sich in besonderen Krisensituationen befinden. Meine Zeit schenke ich ihnen gern, leihe ihnen meine Augen und Ohren und führe viele gute Gespräche mit vielen Menschen in allen Altersgruppen. Sehr oft wird mir ihr Dank sofort zu teil und dies bedeutet für mich unsagbar viel. Ich kann so vieles zurückgeben und mich in meiner Gemeinde einbringen.

Gerade weil ich selbst erfahren habe, wie wichtig es ist, jemanden zum Reden zu haben, wenn man sich in schwierigen Situationen befindet.



Gerd:

Gibt es in einem neuen Land ein neues Leben? Ich denke nicht. Vielleicht wird mein Leben in einer Heimat, einem ZU HAUSE anders, als ich es in Berlin erlebt und sehr oft auch erlitten habe. Der Therapeut, der in der Berliner Beratungsstelle „Gegenwind“ für politisch Traumatisierte tätig ist, hatte nach mehreren Treffen einmal zu mir gesagt, dass es Zeit wird, dass ich hier aus Berlin wegziehe. Diese Stadt tut mir offensichtlich nicht gut.

Ich hatte eine Frau kennengelernt, obgleich ich dachte davon geheilt zu sein, die in Niedersachsen, im Landkreis Celle lebt. Wir führten über ein paar Jahre eine Fernbeziehung und irgendwann hatte ich ihr mal gesagt, dass ich inzwischen jede Bahnschwelle auf der Strecke mit Vornamen kenne. Es war nur noch nervig immer hin und her fahren zu müssen. Die Fahrten nach Niedersachsen waren schön, aber die Fahrten nach Berlin nur noch ein Graus. Ihre Schwester besuchte mich mit ihrem Mann in Berlin und wir hatten einen Tag lang gemeinsam Zeit. Ich zeigte den beiden einiges und schon nach ein paar Stunden hörte ich sie sagen: „Gerd, du bist hier ganz anders als zu Hause. Du gehst gebückt, deine Augen sind traurig und ein Lächeln hatte sie auch noch keines sehen können“. Ihr Mann nickte nur zustimmend.

Ich will weg, einfach weg, ganz weit weg, ich will hier raus!

Dazu brauchte ich einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz. So entschloss ich mich, noch einmal auf die Schulbank zu setzen und eine Ausbildung zum Sozialassistenten zu machen. Die Schule war in Celle schnell gefunden. Ich legte mein Zeugnis der 10.Klasse POS vor, denn dies brauchte ich und so sollte ich mich nur damit abfinden das älteste „Schulkind“ zu sein, was für mich kein Problem war. Mit 46 kann ich auch das sein, dachte ich mir. Meine damalige Partnerin hatte auch schnell für mich eine Wohnung gefunden und so konnte ich den Mietvertrag unterschreiben und den in Berlin kündigen. Das ging am schnellsten. Die Zeit verging und meine Ausbildung sollte beginnen, SOLLTE. Der Arbeitsagentur Celle, die die Kosten für mich übernehmen sollte, war ich mit 46 jedoch plötzlich zu alt für diese Ausbildung. So hatte ich einen Mietvertrag, aber kein Einkommen. Meine damalige Partnerin sprach mit einem örtlichen Taxiunternehmer und so sollte ich Taxifahrer werden.

Alle Behördenangelegenheiten in Berlin und Celle, den Ärztlichen Test, den Augenärztlichen Test, den Reaktionstest und das Lernen für die Ortskundeprüfung innerhalb von 4 Wochen war eine Herausforderung. Ja, ich habe alles geschafft und bestanden. Mein Traum, später mal einen Reisebus zu fahren, rückte näher, denn den kleinen P-Schein hatte ich ja nun.

Zu früh gefreut. Im März 2013 erlitt ich einen Schlaganfall. Im Sommer trennte ich mich von meiner damaligen Partnerin. Aus, nie wieder. Nie wieder würde ich beruflich ein Fahrzeug führen dürfen. Hinzu kam meine komplexe PTBS und ich wurde erwerbsunfähig berentet. Was nun, war die große Frage.

Unter dem Dach der Kirche, hier fühlte ich mich schon immer geborgen und zu Hause, machte ich mehrere Ausbildungen und konnte ab sofort ehrenamtlich tätig sein. Für Senioren und Menschen in Krisensituationen war ich nun ausgebildet. Beides sind Aufgaben die mehr sehr viel Spaß machen und mir zeigen, dass ich noch gebraucht werde.

Dazu kam Manuela, eine Frau, die mich wirklich liebt, die mich versteht, die mich in den Arm nimmt und die mit mir spricht. Wow, was ist das, dachte ich.

Hier bin ich zu Hause, hier kann ich atmen, frei sein, leben, lieben, lachen. Das ist (m)ein NEUES LEBEN in einem neuen LAND.